Herausforderungen aus der Sicht des Arbeitsrechts

Klärungsverfahren zur Überwindung von Arbeitsunfähigkeit

Nach dem zum 1. Mai 2004 geänderten § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat der Arbeitgeber mit Zustimmung der betroffenen Person den Betriebs- oder Personalrat bereits dann einzuschalten, sobald ein „Beschäftigter“ länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt innerhalb eines Jahres arbeitsunfähig krank ist. Soweit der Beschäftigte schwerbehindert oder gleichgestellt ist, hat der Arbeitgeber „außerdem mit der SBV“ die Möglichkeit zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.

Die Ausweitung auf alle Beschäftigte

Die Neufassung hat im Unterschied zu § 167 Abs. 1 SGB IX die Präventionspflicht des Arbeitgebers auf alle Beschäftigten ausgedehnt. Zwar ist in § 68 Abs. 1 SGB IX der Geltungsbereich des Teil 2 des SGB umschrieben: „Die Regelungen dieses Teils gelten für schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen“. Damit wird jedoch nicht die Ausweitung des Geltungsbereichs einer einzelnen Norm des Teils 2 ausgeschlossen. Das wäre nur dann der Fall, wenn diese Regelungsabsicht durch das Wort „nur“ zu Tage treten würde.
Das entspricht aber weder dem Zustand vor noch dem nach der Novelle. Die Beschränkung auf § 68 Abs.1 SGB IX war durchbrochen, weil in § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a. F. die Regelung auf behinderte Menschen und auf von Behinderung bedrohte Menschen ausgedehnt war. Der Gesetzgeber hat mit der Novellierung diese für einen Arbeitgeber kaum erkennbaren Gruppen abgeschafft und das Klärungsverfahren entsprechend seinem Ziel, Beschäftigungsmöglichkeiten für Kranke zu klären, für alle länger oder häufiger kranken Arbeitnehmer geöffnet. 1

Mitwirkungsobliegenheit des Kranken

Der kranke Beschäftigte hat aktiv mitzuwirken. Ohne Kenntnis der Krankheitsursachen und der Krankheitsauswirkungen ist Klärung der Beschäftigungsmöglichkeiten nicht möglich. Verweigert der Arbeitnehmer seine Zustimmung, kann der Arbeitgeber nicht tätig werden. Damit der Arbeitnehmer nicht leichtfertig seine Zustimmung verweigert, hat der Arbeitgeber nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX den betroffenen Arbeitnehmer zuvor auf die Ziele des BEM sowie auf Art und Umfang der verwendeten Daten hinzuweisen. Unterbleibt dieser Hinweis,so ist das unterlassene BEM dem Arbeitgeber kündigungsrechtlich zuzurechnen. Für Arbeitgeber folgt daraus die Notwendigkeit der Dokumentation.

Regelung der Durchführung

SBV und Betriebs- oder Personalrat sind berechtigt, vom Arbeitgeber die frühzeitige Abklärung der Beschäftigungsmöglichkeiten und bei schwerbehinderten Arbeitnehmern auch die entsprechenden Maßnahmen zur Herstellung behinderungsgerechter Arbeitsbedingungen nach § 81 Abs. 4 SGB IX zu verlangen. Die Einzelheiten der Durchführung des BEM sollen die Betriebsparteien selbst regeln. § 83 Abs. 2a Nr. 5 SGB IX bietet dazu die Integrationsvereinbarung an. Dennoch ist es erwägenswert, die Regelung im Rahmen einer Betriebsvereinbarung zu treffen. Das gilt insbesondere deswegen, weil ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG abgeleitet werden kann. 3

BEM Wirksamkeitsvoraussetzung für die Krankheitskündigung ?

Umstritten ist, welche Rechtsfolge mit einem vom Arbeitgeber zu vertretenden Unterlassen des BEM verbunden ist. Zum Teil wird angenommen, eine krankheitsbedingte Kündigung ohne vorherige Durchführung des BEM sei in der Regel unverhältnismäßig und damit sozialwidrig und unwirksam. 4 Dem ist die erste bekannt gewordene Entscheidung eines Landesarbeitsgerichts nicht gefolgt. 5 Weder ist die Durchführung eines BEM Wirksamkeitsvoraussetzung noch ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip (ultima-ratio) in § 167 Abs. 2 SGB IX verstärkend für eine Krankheitskündigung konkretisiert worden. Das dort geregelte Klärungsverfahren ist keine mildere Maßnahme. 6 Allerdings: wer das BEM meidet, hat vor Gericht Probleme.
Der Arbeitgeber muss darlegen und beweisen können, dass auch bei Durchführung des BEM keine Möglichkeit zur weiteren Beschäftigung ermittelt worden wäre. Das gelingt nur, wenn das Klärungsverfahren nach § 167 Abs. 2 SGB IX ungeeignet ist, die Zielfrage des BEM zu beantworten: „Wie kann die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden?“ 7
Bestehen Erkrankungen, die objektiv Behinderungen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1SGB IX darstellen, so hat der Arbeitgeber gegenüber schwerbehinderten und gleichgestellten behinderten Kranken mehr zur Überwindung der Arbeitsunfähigkeit zu tun. Dazu sind nach § 81 Abs. 4 Nr. 4 und 5 SGB IX Arbeitsplätze behinderungsgerecht umzugestalten und mit technischen Hilfen auszustatten. Besondere Förderungsmaßnahmen sind auch gegenüber „einfach“ behinderten Beschäftigten angebracht. Will der Arbeitgeber negative Rechtsfolgen nach §§ 7, 15 AGG vermeiden, hat er entsprechend Artikel 5 der Richtlinie 2000/78 angemessene Vorkehrungen zu treffen. 8

Fußnote

Literatur:

  1. Im Ergebnis: LAG Niedersachsen, 29.03.2005 –1 Sa 1429/04- BB 2005, 1682; nachgehend BAG, 29.06.2005 – 8 AZN 484/05 n.v.; a. A. ArbG Halberstadt, 11.05. 2005 –3 Ca 114/05 – AuA 2005, 567
  2. Gagel, NZA 2004, 1359,1360
  3. Kohte in Düwell HaKo BetrVG 2. Aufl. § 87 Rn. 91
  4. Gaul/Süßbric/Kulejewski, Arbeitsrechtsberater 2004, 308; Brose, DB 2005, 390
  5. Urteil des LAG Berlin, 10. Kammer vom 27.10.2005
  6. So zu Recht Schlewing, ZFA 2006, 496, 499; Düwell in: Schmidt, Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Band 43, S. 1, 13
  7. Zutreffend: Gagel, Forum B Diskussionsbeitrag Nr. 5/2006 unter: www.iqpr.de 
  8. EuGH, 11.07.2006 –C-13/05-„Chacon Navas“ NZA 2006,839 Rn. 50; dazu jurisPR-Arb 40/06 Anm.5 von Roetteken

Text entnommen:

Text entnommen aus dem Tagungsreader der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e. V. – DVfR – zu der Fachtagung am 3. November 2006 in Stuttgart „Eingliedern – aber richtig! Praxiserfahrungen beim betrieblichen Eingliederungsmanagement“

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